Rede von Melinda Nadj Abonji zur Einreichung der Demokratie-Initiative

Melinda Nadj Abonji, Initiativkomitee

Warum wir hier sind. Weil wir etwas zu feiern haben. Dass über 130’000 Menschen die 4/4 Initiative unterschrieben haben. Jede Unterschrift bedeutet eine Stimme. Und es haben auch Menschen für die Initiative gesammelt, die keine Stimme haben. In diesem Land, in dem sie leben, arbeiten, Steuern zahlen, ihre Ideen einbringen; in diesem Land, in dem ihre Kinder geboren sind, die Schule besuchen und Freundschaften knüpfen, über alle Nationalitäten hinweg. Seien wir ehrlich: Ist es nicht verrückt, dass dafür Unterschriften gesammelt werden müssen? Dass ein Land seinem Demokratie-Anspruch eigentlich nicht gerecht wird? Dass eine Demokratie, die sich für die beste aller Demokratien hält, einen Viertel ihrer Bevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht ausschliesst? Ist das verrückt – oder kalkuliert?

Kalkuliert? Warum das kalkuliert sein soll, fragen Sie mich?

Weil der Umgang mit dem Stimm- und Wahlrecht sehr emotional ist. Und diese Emotionalität politisch profitabel ist. Weil man mit einem absurd exklusiven Bürgerrecht einen Keil treibt zwischen jene, die eine Stimme haben und den anderen, die keine Stimme haben und keine haben sollen. Stimme und stumm. Es ist aber, wir wissen es längst, demokratiepolitisch bedenklich, dass es Städte gibt wie Kreuzlingen, in denen mitunter 10% der Bevölkerung den Ausgang der Wahlen und Abstimmungen entscheiden. 10%. Das klingt nicht nach Demokratie. Sie haben Recht. Auch nicht nach Monarchie. Wir müssten einen neuen Namen erfinden. Eine Zehntel-Demokratie? Klingt nicht gut. Aber tatsächlich, die Richtung, in die sich die Schweiz demokratiepolitisch entwickelt, ist bedenklich. Deshalb sind wir hier. Um zu feiern. Und um zu sagen: Hier stimmt was grundsätzlich nicht. Mit dieser Ur-Demokratie. Die Schweiz, das wissen wir, schwärmt gern vom Vollfett-Käse, aber die Realität sieht anders aus. Mager-Demokratie. Das hat was. Ich bin nicht hier, um Scherze zu machen. Warum eigentlich nicht? Besser scherzen, als verzweifeln. Wenn in der ältesten Demokratie, mit ihren checks and balances, ein Krimineller Präsident wird. Da stellt sich auch die Frage, wie das demokratiepolitisch zu rechtfertigen ist. Wenn Markus Somm von einer «reifen Demokratie» schwärmt. Reif – wie schön. Eine reife Frucht. Eine reife Liebe. Eine reife Leistung. Zum Pflücken reif. Mir wird schwindlig, bei so viel Reife, Herr Sommer. Danke Herr Rutishauser, dass sie diese reife Einschätzung ohne Wenn und Aber publizierten, in Ihrem Sonntagsblatt. Aber wir sind ja hier, nicht dort, im Land der Grenzenlosen. So reif sind wir noch nicht. Auch wenn einige gern schon so reif wären. Doch lassen Sie mich eine ernste Frage stellen: Warum hängt die Mehrheit so an ihrem Stimm- und Wahlrecht? Warum wollen sie es so ungern teilen? Teilen ist natürlich missverständlich, aber Sie wissen, was ich meine.

Vox-Analysen zu verschiedenen ausländerpolitischen Vorlagen zwischen 1970 bis 1987 haben ergeben, dass die Stimmberechtigten jeweils für oder gegen «Ausländer:innen» stimmten, ganz egal, worum es im Einzelnen in der Vorlage ging. Angst vor «Überfremdung» – so wurde ein ablehnender Entscheid oftmals begründet; «die Ausländer sollen nicht über uns bestimmen», bald seien die Schweizer «Untertanen». Erstaunlich, finden Sie nicht? Da drängen sich demokratiepolitisch und natürlich auch menschlich ein paar Gedanken auf. Ihr sollt nicht über uns bestimmen, also bestimmen wir über euch. Naja. Wir sind schliesslich hier geboren, auf Schweizerboden. Und dann das Wort «Untertanen». Naja. Da denke ich direkt an die Obrigkeit. Ans Mittelalter, an biblische Zeiten. Und das Prinzip «Überfremdung» hat sich ja bewährt; seit 100 Jahren holen es die guten Vögte aus dem Giftschrank, um ihre Gefolgschaft bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran zu erinnern, dass sie «überfremdet» werden, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich die masseneingewanderten «Fremden» ihr Bürger- und Stimmrecht «erschleichen». Bis jetzt hat sich das Stimmvolk aber gewehrt, bei jeder Abstimmung über die politischen Rechte die Stimme erhoben, ein klares und deutliches und niederschmetterndes «Nein» in die Urne gelegt, wir lassen es nicht zu, dass die Fremden über uns bestimmen.

Absurd, nicht wahr? Dass man als Stimmberechtigte dieses angestammte Geburts-Privileg bewahren möchte, sozusagen als Läckerli aus guten alten Zeiten, da die wehrhaften Schweizer die fremden Vögte aus dem Land jagten. Erstaunlich, wie weit man gehen kann, um nicht über die eigenen Gratis-Privilegien nachdenken zu müssen, der unvergleichlichen Lust, sich überlegen zu fühlen – wie bitte? Demokratie? Ja, aber nur für uns!

Aber genau deshalb sind wir hier. Weil die Schweiz ein Demokratie-Defizit hat. Weil wir an diesen grundsätzlichen Widerspruch erinnern wollen, zwischen einer nationalistischen Demokratie-Vorstellung, die sich Richtung Oligarchie entwickelt, und einer demokratischen Demokratie, in der jeder Mensch mit seiner Stimme Teil der Demokratie und Teil von demokratischen Prozessen ist. Und ja, wir wollen feiern, weil wir das Absurde geschafft haben, über 130’000 Unterschriften zu sammeln, um laut und deutlich und gemeinsam darauf aufmerksam zu machen, dass die Zukunft demokratisch ist, und das ist nur möglich, wenn die Mehrheit bereit ist, ihr wohlig wärmendes Suprematie-Denken aufzugeben.

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