Schreiben an Bundesrat Beat Jans

Türen öffnen für alle, die hier zuhause sind – modernes Bürgerrecht für eine zukunftsfähige Schweiz

Sehr geehrter Herr Bundesrat Jans,

Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich zur Wahl in die Landesregierung! Wir sind zuversichtlich, dass mit Ihnen ein neues Mitglied im Bundesrat ist, das sich für alle Menschen einsetzt, die in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben. Und wir sind überzeugt, dass Sie mit ihren biografischen und fachlichen Erfahrungen einen Unterschied zugunsten der Schweizer Bevölkerung machen können.

Ein grundlegender Widerspruch im Schweizer Staatsverständnis

Zur Schweizer Bevölkerung gehören auch jene gut 25 Prozent ohne Schweizer Pass, die deshalb Willkür, Unsicherheit und ein Gefühl des Nicht-Dazugehörens erfahren. Dabei entspricht dieser hohe Anteil von Menschen – absolut und im europaweiten Vergleich – ohne Schweizer Staatsangehörigkeit längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität einer postmigrantischen Schweiz: Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten durch Migration und Globalisierung grundlegend verändert. Im Jahre 2019 hatten 37,7 Prozent der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Tendenz ist steigend, bei Jugendlichen und Kindern liegt der Anteil heute gar bei über 50 Prozent. Die Einwanderung von Arbeitskräften aus dem Ausland seit dem Zweiten Weltkrieg, der Familiennachzug und die wachsende Asyl- und Fluchtmigration seit den achtziger Jahren haben das Gesicht der Schweiz im Alltag unwiderruflich verändert – auf den Strassen, in den Wohnzimmern, Schulen, Vereinen, Spitälern und Betrieben. Nie haben die Klischees vom Aussehen und Leben der Schweizer*innen weniger zur sozialen Realität gepasst.

Die politische Realität hingegen unterscheidet immer noch in «Schweizer» und «Ausländerinnen». Während Erstere gemeinhin als vollwertige politische Subjekte gelten, werden Letztere wie selbstverständlich nicht als Schweizer*innen gelesen und entsprechend ausgeschlossen – sei es, indem ihnen der Schweizer Pass verwehrt bleibt, oder sie trotz des Schweizer Passes rassistische Diskriminierung und Xenophobie erfahren.

Von Willkür und Ausgrenzung im Bürgerrecht

Besonders deutlich wird diese Grenzziehung im Bürgerrecht – mit teils schwerwiegenden Nachteilen. Wer nicht über die Schweizer Staatsangehörigkeit verfügt, hat ein prekäres Aufenthaltsrecht, das jederzeit widerrufen oder zurückgestuft werden kann. Menschen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft haben mit wenigen Ausnahmen keine politischen Rechte. Und wer die Staatsbürgerschaft beantragen möchte, muss mindestens seit zehn Jahren mit Aufenthaltsrecht in der Schweiz wohnen und die Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) besitzen.

Mit dieser im Jahre 2018 eingeführten Bestimmung bleiben vor allem viele Geflüchtete und junge Personen, die hier geboren oder als Kinder in die Schweiz gekommen sind sehr lange vom Bürgerrecht ausgeschlossen. Besonders problematisch sind die massiven Ungleichheiten aufgrund des dreistufigen Einbürgerungssystems (Gemeinde, Kanton, Bund): Diskriminierungen aufgrund der Herkunft, aber auch aufgrund des Geschlechts und einer Behinderung gehören zum Alltag der Einbürgerungspraxis – insbesondere an Gemeindeversammlungen.

Besonders schwierig haben es aber jene, die von der Sozialhilfe abhängig sind oder in den drei Jahren vor dem Einbürgerungsgesuch Sozialhilfe bezogen haben. Die hohen Hürden für Menschen in sozioökonomisch schwierigen Situationen können zu einer negativen Spirale führen, die den Betroffenen den Zugang zum Schweizer Pass für lange Zeit praktisch verunmöglicht. Zudem zeigt sich, dass Menschen, die nicht über die Schweizer Staatsangehörigkeit verfügen, verstärkt Diskriminierung in ihrem Alltag ausgesetzt sind, so zum Beispiel auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt.

Für eine zukunftsfähige Schweiz für alle

Die geltende kulturelle und rechtliche Praxis im Schweizer Staatsbürgerverständnis entspricht nicht unseren Vorstellungen einer modernen Schweiz. Darum haben wir im Jahre 2020 das Manifest für eine Vierviertel-Demokratie lanciert – inklusive jenes Viertels, das über keinen Schweizer Pass verfügt, aber ebenso Schweizer Geschichte schreibt wie die Menschen mit Schweizer Staatsangehörigkeit. Im Mai 2023 haben wir zudem die Volksinitiative «Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative)» lanciert.

Wir kämpfen für ein Land, das selbstbewusst zu seinem Mitmenschen steht. Ein Land, in dem alle als vollwertige Mitbürger*innen gelten, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben. Wir wünschen uns ein Land, das mutig in die Zukunft sieht und bereit ist, die grossen Herausforderungen gemeinsam zu meistern.

Wir sind uns bewusst, dass diese Vision einen grundlegenden Kulturwandel auf allen Ebenen verlangt, der nicht von heute auf morgen passieren wird. Zugleich sind wir der Auffassung, dass es wichtig ist, dass alle politischen Entscheidungsträger*innen versuchen, ihren Beitrag für ein gerechteres Bürgerrecht zu leisten. Und dazu zählen wir gerade auch Sie, Herr Bundesrat Jans, als Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements. In diesem Sinne wünschen wir uns einen Bundesrat Beat Jans, der im Sinne seiner «Chefin» mutig vorangeht und progressive Vorschläge für ein modernes Bürger*recht formuliert.

Sehr gerne sind wir bereit, uns mit Ihnen dazu auszutauschen – und würden uns freuen, wenn Sie in den kommenden Wochen Zeit für ein Treffen finden.  

Mit freundlichen Grüssen!

E-Mail: kontakt@aktionvierviertel.ch
Bern, 1. Januar 2024

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