Rede 1. Mai 2024 – Schaffhausen – Hauptredner Arber Bullakaj zur Demokratie Initiative

Es gilt ausschliesslich das gesprochene Wort

Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel – Es ist Zeit für eine Vierviertel-Demokratie!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,  
Liebe Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter 
Liebe Gerechtigkeitskämpfer:innen und Demokratie-Freund:innen
Liebe Schweizer:innen mit und ohne Schweizer Pass
Liebe Mitmenschen mit und ohne Migrationsgeschichte
Geschätzte Anwesende

Ich begrüsse euch herzlich und freue mich, hier bei euch an diesem tollen Tag zu sein. Dieser Tag ist enorm wichtig und das insbesondere aus zwei Gründen. Zum einen, um die Errungenschaft der Arbeiter:innenbewegung und der Gewerkschaften zu feiern. Viel haben wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten gemeinsam erreicht. Die Liste ist lang und beinhaltet viele wichtige Meilensteine, vom Generalstreik 1918, der eine 48h Woche errang, hin zur historischen Abstimmung vor einigen Wochen, wo insbesondere dank euch die 13. AHV Rente nun zur Wirklichkeit wird. 

Zum anderen ist der Tag jedoch auch wichtig, um zu protestieren und um uns an unsere fortwährende Verantwortung zu erinnern, für Gerechtigkeit und gleiche Rechte in unserer Gesellschaft und in dieser Welt zu kämpfen.

Es liegt noch viel vor uns, denn von Chancengleichheit sind wir noch weit entfernt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst seit langem ins unermessliche. Wir werden produktiver, aber nur wenige ziehen Profit davon. Und wir haben in der Schweiz ein grosses demokratiepolitisches Problem: es herrscht nämlich seit ca. 50 Jahren nach der viel zu späten Einführung des Frauenstimmrechts wieder Jahr für Jahr weniger Demokratie. 

Wusstet ihr, dass die Schweiz nach den USA die zweitälteste Demokratie der Welt ist? Im Jahr 1848 war die Schweiz das einzige Land in Europa, in dem die demokratische Revolution erfolgreich war. Die Schweiz war damals eine Vorreiterin der demokratischen Rechte. So fortschrittlich sie im 19. Jahrhundert im internationalen Vergleich war, so stark geriet sie jedoch im 20. Jahrhundert in Rückstand. Verantwortlich dafür war insbesondere die Verweigerung des Stimm- und Wahlrechts der Frauen durch die Männer. Erst 1971 und nur dank dem starken Kampf der Frauen und progressiven Männer, wurde das Stimmrecht für Frauen Realität. Als eines der letzten Länder in Europa. 

Hier in Schaffhausen, wie in der ganzen Schweiz, stehen wir also nun vor der nächsten zentralen Herausforderung. Über zwei Millionen Menschen, die hier unter uns und mit uns leben, arbeiten, sich kulturell und freiwillig engagieren, die Steuern zahlen, haben kein Schweizer Bürgerrecht. Diese Tatsache steht in krassem Widerspruch zu den demokratischen Werten von Fairness, Teilhabe und Gleichheit. 

Dabei ist das Bürgerrecht ein Schlüssel-Recht: Es ist die Voraussetzung für zahlreiche elementare Rechte. Nicht nur für die demokratische Teilhabe, sondern auch für den Schutz vor Ausweisung und Auslieferung. Die einzige Garantie für ein Recht auf Heimat ist das Bürgerrecht. 

Anders, als wir denken würden, haben sich im Lauf der letzten 100 Jahr so einige Kriterien sogar verschärft. Denken wir an Albert Einstein, der nach fünf Jahren in der Schweiz eingebürgert wurde. Heute steht ein junger Athlet wie Dominic Lobalu, ein Spitzenläufer, der bereits seit Jahren hier lebt, vor einer Einbürgerungszeit von über 10 Jahren Jahren. Dies verhindert, dass er international unter Schweizer Flagge antreten kann. Auch verstand sich vor ca. 100 Jahren die Einbürgerung als Startpunkt der sogenannten “Integration”, während sie heute als Belohnung am Schluss angesehen wird, quasi als patriarchalisches Zückerli für gutes Benehmen. Das führt zu krassen Fällen der Willkür.

Wer Schweizer-Bürger/in werden möchte hat strengen strukturellen Anforderungen, wie Aufenthaltsfristen in der Gemeinde, dem Kanton und einer Niederlassungsbeweilligung zu erfüllen.  Diese können  von Gemeinde zu Gemeinde, vom Kanton zu Kanton unterschiedlich sein. Und schafft man die strukturellen Hürden, dann folgt oftmals eine Willkür beim Prüfen der Integration. Das führt dazu, dass Menschen die Einbürgerung verweigert wird, weil sie nicht alle Beizen im Dorf aufzählen können, oder die Farbe der häufigsten Kuh in ihrer Region nicht wissen. Das kommt leider öfter vor, als man es sich denken würde. Ich begleite seit 18 Jahren Menschen in diesem Prozess und habe leider schon viel Tragisches mit ansehen müssen. Diese willkürlichen Praktiken müssen endlich enden.

Diese Verschärfung der Einbürgerungspraxis steht auch im krassen Widerspruch zur Realität unserer vielfältigen Gesellschaft. Es ist Zeit, einen Paradigmenwechsel in der Einbürgerungspolitik einzuleiten. 

Die “Aktion Vierviertel” setzt sich für ein Bürgerrecht ein, das alle einschliesst, die hier dauerhaft leben. Unser Ziel ist es, von einer “Dreiviertel-Demokratie” zu einer vollständigen Demokratie überzugehen. Das ist der Kern einer wahren Demokratie – eine, die nicht ausschliesst, sondern einbindet. Wir können diesen undemokratischen Ausschluss von Menschen, die seit Ewigkeiten Teil unserer Gesellschaft sind, nun beenden. Mit der Demokratieinitiative setzen wir der Willkür und der Schikane im Einbürgerungsverfahren ein Ende. 

Das Engagement für eine vollständige Demokratie und für Arbeitnehmer:innenrechte ist dabei untrennbar mit dem Kampf für die Rechte der Migrantinnen und Migranten verbunden. Jede dritte Arbeitsstunde in der Schweiz wird von Menschen ohne Schweizer Pass geleistet. In Zukunft wird dieser Anteil sogar erheblich ansteigen. Migrantinnen und Migranten leisten einen grossen Beitrag für den Erfolg der Schweiz: Sport, Kultur, Wirtschaft und das Allgemeinwohl profitieren von der gelebten Vielfalt.

Viele dieser Menschen sind aber oft prekären Umständen ausgesetzt. Die Covid-Pandemie hat besonders deutlich gemacht, wie stark die Farbe des Passes mit unsicheren Arbeitsbedingungen und der Angst in der Not, finanzielle Unterstützung zu beziehen, in Verbindung steht. So viele Menschen hatten nicht nur mit der Unsicherheit der Pandemie zu kämpfen, wie wir alle, sie mussten zusätzlich befürchten, dass ihre Aufenthaltsbewilligung nicht verlängert wird, wenn sie ihr Recht auf finanzielle Unterstützung beanspruchen würden. Diese prekäre Situation unterstreicht die dringende Notwendigkeit für einen fairen und niederschwelligen Einbürgerungsprozess.

Wir stehen vor der Wahl: Wollen wir eine exklusive Gesellschaft, die auf einem überholten Verständnis von Staatsbürgerschaft basiert, oder eine inklusive, die den Realitäten einer vielfältigen Schweiz gerecht wird?

Lasst uns heute, am Tag der Arbeit, die Arbeitenden ehren und auch das Fundament unserer Demokratie stärken, indem wir für ein Bürgerrecht kämpfen, das allen gerecht wird, die hier ihre Zukunft aufbauen wollen.

Wir haben bereits 65.000 Unterschriften gesammelt, aber wir brauchen mehr. Wir müssen weiter aktiv sein, um unser Ziel von 100.000 Unterschriften zu erreichen. Es wäre doch tragisch, wenn sich nicht 100.000 Menschen in der Schweiz finden würden, die sich für die über zwei Millionen einsetzen, die täglich so viel für dieses Land leisten.

Heute sind wir hier, um einen historischen Moment zu feiern, denn 50 Jahre nach Schwarzenbach, und 30 Jahre mit Blocher – ist die Zeit jetzt reif für einen neuen, mutigen Gesellschaftsentwurf, für eine Vierviertel-Demokratie. 

Und vergessen wir eines nicht: Demokratiepolitische Fortschritte kamen nie von selbst.  Sie mussten immer hart erkämpft werden.

Als Gründungspräsident des Vereins und Mit-Initiant der Demokratie-Initiative bin ich enorm dankbar, dass wir nun gemeinsam diesen Kampf führen. Jede Unterschrift zählt, jede Stimme stärkt unsere Gemeinschaft, schliesslich geht es um nichts Geringeres als die Zukunft der Schweiz im 21. Jahrhundert.

Ich wünsche uns allen einen inspirierenden und kraftvollen Tag der Arbeit. Solidarität!

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