Basel Kolonial City Tour, Rundgang 2: Sklaverei und Migration

Station Basler Stadthaus/Bürgergemeinde

Claudia Wirthlin:

Warum stehen wir vor dem Stadthaus? Was hat Einbürgerung mit Sklaverei und Kolonialismus zu tun? Wie hat sich die Einbürgerungspolitik im Verlauf der letzten Jahrhunderte in Basel und in der Schweiz entwickelt? Wie geht die jeweilige Gesellschaft mit den Zugewanderten um? Wer entscheidet heute, wer dazugehört? Was will die Demokratie-Initiative?

Claudia Wirthlin von der Demokratie-Initiative der Aktion Vierviertel leuchtet historische Hintergründe aus und plädiert für ein Überdenken der heutigen Einbürgerungspolitik.

Was hat Einbürgerung mit Sklaverei und Kolonialismus zu tun?

Anhand des Themas Einbürgerungspolitik lässt sich beispielhaft aufzeigen, wie die koloniale Vergangenheit in die Gegenwart hinein weiterwirkt. In der Kolonialzeit wurzelnde Überlegenheitsvorstellungen haben ihre Spuren in unseren Köpfen und institutionellen Strukturen hinterlassen.

  • Die Institution der Bürgergemeinde Basel selber ist ein Beispiel für die Kontinuität einer vordemokratischen und exklusiven Staatsordnung, welche sich ins heutige moderne Staatsverständnis hinüberretten konnte. Die sieben Mitglieder des Kleinen Rats der Bürgergemeinde, der Exekutive, wurden aus den eigenen sozialen Kreisen rekrutiert und durch Kooption (Zustimmung der bisherigen Mitglieder) gewählt. Eine gezielte Heiratspolitik und der patrizische Lebenswandel auch des neuen Bürgertums trugen massgeblich zum Machterhalt der städtischen Elite bei. Bürgerrechte waren eine exklusive Angelegenheit und wurden bis Ende 1860er Jahre nur wenige vergeben.
  • Der Kleine Rat wurde zudem durch dieselben alten Familien der Seidenbandherren, Bankiers und Kolonialunternehmer dominiert, deren Reichtum massgeblich aus der Beteiligung am transatlantischen Dreieckshandel stammte. Ein gut dokumentiertes Basler Beispiel für die Beteiligung am Sklavenhandel sind die Familien Christoph Burckhardt und Sohn. Leonhard Burckhardt, ein Nachfahre dieser Familien, sass bis 2023 während 18 Jahren im Bürgerrat. Er bekennt sich offen zu seinem schwierigen Erbe und plädiert für völlige Transparenz. Ihm vor allem verdanken wir die Podcastserie «Auf den Spuren der Basler Kolonialgeschichte» von Janina Labhart auf Radio X, welche durch die Bürgergemeinde Basel massgeblich unterstützt worden ist.

Schlaglichter auf die baselstädtische Einbürgerungspolitik

Die Basler Einbürgerungspolitik war zu allen Zeiten bis heute immer von konjunkturellen Schwankungen und machtpolitischen Interessen geprägt. Wer in der Stadt dazugehörte und wer nicht, wurde und wird bis heute in einem andauernden gesellschaftlichen Aushandlungsprozess festgelegt. Folgende Schlaglichter beleuchten einige ausgewählte Momente dieses Prozesses.

  • Nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung 1798 stand die Stadt Basel unter einer erzkonservativen Regierung. Die Zünfte fungierten als Träger des politischen Systems. Das Misstrauen liberalen Ideen gegenüber war nach den Trennungswirren 1833 (Kantonstrennung BS/BL) besonders gross. Im Grossen Rat waren die Handwerkszünfte um die Sicherung ihrer Privilegien besorgt und blockierten sämtliche Neuerungen. «So sorgten sie zum Beispiel bis 1848 dafür, dass das Bürgerrecht nur an Protestanten verliehen wurde.» (Habicht, S. 122)
  • Nach der Gründung des Bundesstaates 1848 war auch Basel gezwungen, allen Schweizer Bürgern das Wahl- und Niederlassungsrecht zuzugestehen (Frauen und jüdische Menschen waren schweizweit davon ausgenommen).
  • Bis 1866 prägte ein extrem langer Dienstweg und die «peinliche Vorführung der Bewerber» das baselstädtische Einbürgerungsprozedere. Insgesamt musste ein Bewerber fünfmal vor den staatlichen und den städtischen Behörden antreten: zweimal wurde mit ihm ein Gespräch geführt, dreimal wurde er nur «beschaut». (Pfister, S. 40) Nur wenige Kandidaten bewarben sich.
  • Ab 1860 kam es infolge der Industrialisierung in Basel zu einer massiven Zuwanderung aus der Schweiz und aus dem nahen Ausland. Die Bevölkerung stieg stark an, und das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Einwohner*innen verschob sich bis um 1900 zunehmend zuungunsten der Basler Bürger*innen. Pfister (S.109) nennt 38% Ausländer, 25% Basler Bürger, 37% CH-Bürger. Infolgedessen kam es zu vielen Diskussionen und mehreren Gesetzesrevisionen.
  • Gemäss neuem Bürgerrechtsgesetz von 1879 sollte «die Aufnahme neuer Bürger tunlichst erleichtert werden». (Pfister, S. 28)
  • Das neue Gesetz vom Juni 1902 sah sogar die unentgeltliche Aufnahme von allen Nichtbürgern unter 45 vor. Einzige Bedingung: Schweizer mussten 15 Jahre in Basel gewohnt haben, Ausländer 25 Jahre. Das Polizeidepartement war dazu angehalten, zuhanden des Bürgergemeinderats alljährlich Listen von volljährig gewordenen Schweizer Nichtbürgern und von allen Ausländern beiderlei Geschlechts zu erstellen. Sie sollten dann alle persönlich eingeladen werden, das Basler Bürgerrecht zu erlangen. Pfister sprach 1974 rückblickend von einem unwürdigen «Bürgerrechts-Jahrmarkt», Basel habe das «billigste Einbürgerungsgesetz der Schweiz» gehabt und sei zum Gespött aller geworden. (Pfister, S. 29)
  • Heute ist der Einbürgerungsprozess in Basel-Stadt immer noch langwierig und umfasst zwei Gespräche (wie in der Zeit vor 1866!): das Erhebungsgespräch beim Kanton und das Einbürgerungsgespräch vor der Kommission der Bürgergemeinde. Er beinhaltet nebst der eigentlichen Gesuchstellung auch einen Einbürgerungskurs, sowie einen mit dem Gespräch verbundenen Einbürgerungstest. Bei diesem Test geht es um Fragen rund um Schweizer Geschichte und Politik, sowie um Basler Geschichte, Bräuche und Traditionen. Laut Baseljetzt online (Zugriff am 21.10.23) werden beim Einbürgerungsgespräch in Baselstadt etwa 30 Fragen gestellt, unter anderem zum Vogel Gryff und zu den Zünften. Hier wird die Bürgergemeinde, der auch heute noch die Aufsicht über die Zünfte und Gesellschaften obliegt, als Hüterin der Basler Traditionen sichtbar. Dass diese Traditionen teilweise auf rassistischen Vorstellungen basieren, haben spätestens 2018 die heftigen Diskussionen rund um die Namensgebung einer Basler Fasnachtsclique gezeigt. (Pinto de Magalhães, S. 103 ff.)
  • Ob nun Basel heute eine besonders «aufgeschlossene» Einbürgerungspolitik pflegt, wie es im Flyer der Bürgergemeinde heisst, sei dahingestellt. Zweifelsohne verfügt die Bürgergemeinde heute immer noch über gesellschaftlichen Einfluss und politische Macht. Sie entscheidet über Einbürgerungsverfahren, das ist ihre zentrale Aufgabe. Auch ein sogenannt aufgeschlossenes Vorgehen in einer sich als liberal und kosmopolitisch verstehenden Stadt muss heute – in Anbetracht der meist unhinterfragten Entstehungsgeschichte und der strukturellen Voraussetzungen bezüglich Kolonialismus und Rassismus – erneut einer breiten Diskussion unterzogen werden.

Ein Blick auf Migration und Einbürgerungspolitik in der Schweiz

Richten wir nun – bevor wir zur Demokratie-Initiative kommen – unsere Aufmerksamkeit kurz auf die nationale Ebene. Denn die Prozesse in Basel fanden ja nicht im luftleeren Raum statt, sondern verliefen teilweise parallel zu den Entwicklungen im Rest der Schweiz.

  • Im März 1798 wird das allgemeine Schweizer Bürgerrecht eingeführt (Achtung: Frauen, jüdische Menschen und andere Personengruppen waren von Anfang an ausgeschlossen)
  • Zwei Jahre nach Gründung des modernen Bundesstaates trat 1850 das «Bundesgesetz die Heimathlosigkeit betreffend» in Kraft. Es kam in der Folge zwischen 1850 und 1878 zu cirka 30’000 Zwangseinbürgerungen. Betroffen waren fahrende Gewerbler*innen, Papierlose, Aussenseiter*innen. Die Gemeinden wurden gezwungen, alle Leute aufzunehmen, die sich im Moment des behördlichen Zugriffs gerade zufällig auf ihrem Gebiet aufhielten. Sie waren zudem dazu verpflichtet, die neuen Heimatberechtigten in Notzeiten zu unterstützen. Diese Verlinkung zwischen «Armengenössigkeit» und Unterstützung aus der Gemeindekasse sollte bis heute verheerende Auswirkungen haben. So kann heute etwa ein Mensch, der*die Sozialhilfe bezieht – und sei es auch nur vorübergehend – keinen Schweizer Pass beantragen oder erhalten.
  • Wir sollten nie vergessen, dass die Schweiz ein ausgeprägtes Auswanderungsland war mit durchgehend negativer Wanderungsbilanz ab Mitte 16. bis Ende 19. Jahrhundert. Vor allem im 19. und bis weit ins 20.Jh. hinein war sie alles andere als das vermeintliche Paradies, welches Migrant*innen anlockte wie «die Motten das Licht». (Grossrieder, S. 10) Allein von 1850 bis 1914 zählte unser Land mehr als eine Viertelmillion Emigrant*innen.
  • Zwischen 1885 und 1965 verloren 85’000 Schweizer Frauen ihr Bürgerrecht, weil sie einen Ausländer heirateten. Sie erhielten es auch nach dem Tod des Ehemannes oder nach einer Scheidung nicht zurück. Bis 1941 war das ein ungeschriebenes Gesetz, ein Gewohnheitsrecht. Erst ab 1953 konnten Frauen dann bei der Heirat auf dem Standesamt erklären, dass sie Schweizerinnen bleiben wollten, falls sie denn überhaupt von dieser Bestimmung Kenntnis hatten.
  • 1952 erhielten die Gemeinden explizit das Recht, schriftliche Tests für die Bürgerrechtskandidierenden einzuführen. Jede Gemeinde konnte von da an eigene Regeln für die Einbürgerung festlegen. Bis heute sind es die Gemeinden – in Basel und in wenigen andern Orten die Bürgergemeinde -, welche die Regeln für die Schweizerwerdung bestimmen, Kantone und Bund müssen allerdings zustimmen. Das bedeutet nicht zuletzt einen hohen bürokratischen Aufwand. Im Jahr 2022 gab es offiziell 2148 Gemeinden mit potentiell genauso vielen verschiedenen Varianten an Einbürgerungsverfahren.
  • Auf dem Hintergrund der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit (1961 Gründung der Nationalen Aktion, 1968 Lancierung der Schwarzenbach-Initiative) machte das Schlagwort der Assimilation die Runde. Ausländische Menschen, die längerfristig in der Schweiz bleiben wollten, müssten sich assimilieren, das heisst anpassen, angleichen, ihre Herkunft und Identität verleugnen. In diesem Zusammenhang fällt eine 1968 publizierte knapp 100seitige Schrift mit dem Titel «Vom Anderssein zur Assimilation. Merkmale zur Beurteilung der Assimilationsreife der Ausländer in der Schweiz» ins Auge. Autor Marc Virot, Vorsteher der Fremdenpolizei des Kantons Bern, vertrat darin u.a. die für uns heute interessante Ansicht, die Konfrontation mit der Eigenart anderer Menschen fördere «die Ahnung, dass Eigenart noch keine unbedingte Auszeichnung sei, kein Freibrief; man hat sie, aber man kann sich nicht darauf berufen in Anfällen von Minderwertigkeitsgefühlen». (Grossrieder, S. 27)
  • Heute hat längst der Begriff «Integration» die «Assimilation» ersetzt, was unter anderem der Mitenand-Bewegung der späten 1970er und 1980er Jahre zu verdanken ist, welche sich mit den ausländischen Mitmenschen solidarisierten.
    Bund und Kantone schreiben heute den Gemeinden vor, die Einbürgerungswilligen müssten «erfolgreich integriert» und «mit den hiesigen Lebensverhältnissen vertraut» sein. Das sind sehr large Vorschriften, der Ermessensspielraum der Gemeinden ist entsprechend riesig, und der Willkür der Behörden sind fast keine Grenzen gesetzt. Das muss sich dringend ändern.
  • Im Büchlein «Schweizermacher für Anfänger» von 2022 meint Autor Beat Grossrieder: «Zuwanderung und Einbürgerung polarisieren die Schweiz bis heute, weil diese Prozesse die Eigenart der Mehrheitsgesellschaft entblössen.» […] «Mit unseren Vorstellungen, wie man hier zu sein hat, halten wir uns selber den Spiegel vor und müssten eigentlich erschrecken über so viel Kleinkrämerei. Das tut uns selbst nicht gut [….].» (Grossrieder, S. 29)

Was uns Schweizer*innen heute gut täte

  • Innehalten, zurücklehnen, in den Spiegel schauen und mit einer gewissen inneren Distanz und Ruhe über das heutige Bürgerrechtsgeschehen im Land nachdenken.
  • Dazu gehört selbstverständlich ein Nachdenken über uns selbst: wer sind wir, woher kommen wir und wo stehen wir, welche Gesellschaft wollen wir, was ist uns wichtig?
  • Vielleicht können/müssen/wollen wir uns mit folgenden Fragen auseinandersetzen:
    – Wer entscheidet eigentlich, wer zu unserer Gesellschaft dazugehört und wer nicht?
    – Wer sind wir denn, dass wir uns ein Urteil über «andere» zutrauen? ist das nicht eine Zumutung für die «anderen» und eine unerhörte Anmassung unsererseits? oder haben wir es etwa mit einer unerhörten Überforderung unsererseits zu tun?
    – Inwiefern spuken in unseren Köpfen immer noch koloniale und/oder rassistische Vorstellungen mit? Fühlen wir uns «andern» gegenüber nicht doch insgeheim überlegen, entgegen allen Beteuerungen? Und wie steht es mit unseren Gesetzen und Institutionen? Bilden sie die Lebensrealitäten der Menschen im Land überhaupt noch ab?

Über all diese Fragen wollen wir reden und diskutieren. Es gibt für uns nichts zu verlieren, im Gegenteil: wir können nur gewinnen! Eine vollwertige Vierviertel-Demokratie nämlich!

Demokratie-Initiative: Volksinitiative für ein modernes Bürgerrecht mit klaren und objektiven Kriterien

Die eidgenössische Volksinitiative «Für ein modernes Bürgerrecht (Demokratie-Initiative)» will durch eine Änderung der Bundesverfassung (Artikel 38, Absatz 2) erreichen, dass neu folgende vier Kriterien schweizweit Gültigkeit haben:

  • Einbürgerung nach 5 Jahren bei rechtmässigem Aufenthalt
  • Keine längerfristige Freiheitsstrafe
  • Keine Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz
  • Grundkenntnisse einer Landessprache

Die Festschreibung dieser Kriterien in der Bundesverfassung würde kantonaler und gemeindlicher Willkür endlich einen Riegel schieben. Alle, die einen Schweizer Pass erhalten wollen, würden schweizweit gleichbehandelt werden. Faires Verfahren für alle! Die Schweizermacher gehören in die Mottenkiste!

Die Demokratie-Initiative (www.demokratie-volksinitiative.ch) wurde im Frühling 2023 von der Aktion Vierviertel (www.aktionvierviertel.ch) lanciert, einem zivilgesellschaftlichen Bündnis von Einzelpersonen mit Migrationsvordergrund und einigen kleineren zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Mit der Demokratie-Initiative wollen wir eine vollwertige Demokratie schaffen, denn eine Gesellschaft, in der ein Viertel der Menschen von vollwertiger politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen ist, führt längerfristig zu einer Zweiklassengesellschaft und verliert ihre demokratische Legitimation. Der Schweizer Pass soll allen zustehen, die in der Schweiz ihren Lebensmittelpunkt haben, arbeiten, Steuern bezahlen, Kinder zur Schule schicken und Freunde und Familie haben. Sie sollen ein Recht auf einen sicheren Aufenthalt haben und sich als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft fühlen können. Die Herkunft eines Menschen, seine weltanschaulichen Überzeugungen und seine soziale Stellung dürfen für das Bürgerrecht keine Rolle mehr spielen. Denn alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Zudem ist die Vielfalt, die aus der langjährigen Migration erfolgt, längst Teil des kulturellen Reichtums und des gelebten Alltags in der Schweiz. Davon profitieren wir alle tagtäglich! Tragen wir nun auch als Schweizer*innen dazu bei, dass Chancen und Rechte auf politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene nicht mehr dermassen ungleich verteilt sind! Sammeln wir Unterschriften, führen wir die dazu notwendigen Diskussionen und stellen uns mutig dem eisigen Wind entgegen, der uns auch nach den Wahlen vom Oktober 2023 weiterhin ins Gesicht blasen wird!

Es ist genügend Bürgerrecht für alle da!

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