Bürger*innen im Klassensystem

Von Rosemarie Weibel, Mitglied des Initiativkomitees und des Lokalkomitees der Demokratie-Initiative

Obschon die Schweiz statistisch gesehen „ein Einwanderungsland wie aus dem Bilderbuch“ ist[1] folgt sie im Gegensatz zu anderen typischen Einwanderungsländern bei der Einbürgerung nicht dem Prinzip des „ius solis“, sondern demjenigen des „ius sanguinis“.

Die Hürden, die überwunden werden müssen, um „dazu zu gehören“, sind besonders hoch: Nach dem am 9. Februar 2014 von „Volk und Ständen“ angenommenen Art. 121a BV, sind schon verfassungsrechtlich massgebende Kriterien für die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen insbesondere das Gesuch eines Arbeitgebers, die Integrationsfähigkeit und eine ausreichende, eigenständige Existenzgrundlage. Der Anspruch auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen kann beschränkt werden.

Das Ausländergesetz (AuG) stellt klar, was oberstes Prinzip der schweizerischen Einwanderungspolitik ist: Das Interesse der Gesamtwirtschaft. Im übrigen werden Ausländerinnen und Ausländer nur zugelassen, wenn es völkerrechtlicher Verpflichtungen, humanitäre Gründe oder die Vereinigung der Familie sozusagen unumgänglich machen („erfodern“, Art. 3 Abs. 2 AuG).

Aufenthaltsbewilligungen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit können dem Grundsatz nach nur Führungskräften, Spezialistinnen und Spezialisten und anderen qualifizierten Arbeitskräften erteilt werden. Es müssen Eigenschaften vorliegen, die eine nachhaltige Integration in den schweizerischen Arbeitsmarkt und das gesellschaftliche Umfeld erwarten lassen, worunter berufliche Qualifikation, die berufliche und soziale Anpassungsfähigkeit, die Sprachkenntnisse und das Alter verstanden werden. Nicht unbedingt integrationsfähig oder –absichtig brauchen Personen zu sein, die investieren, Herausragendes leisten in Wissenschaft, Kultur und Sport, über besondere beruflichen Kenntnissen oder Fähigkeiten verfügen oder Kaderstellen im Rahmen von wirtschaftlich bedeutenden internationalen Geschäftsbeziehungen innehaben (Art. 23 AuG). Diese Kriterien sind nicht nur bei der erstmaligen Einreise ausschlaggebend, sondern auch dafür, wie gesichert die Daseinsberechtigung ist: Für eine ordentliche Einbürgerung ist nebst einem Aufenthalt von 10 Jahren der Besitz der Niederlassungsbewilligung erforderlich, welche grundsätzlich erst nach 10 Jahren und bei Erfüllung der Integrationskriterien erteilt wird. Bloss in Ausnahmefällen, bei besonders gelungener

Integration oder Vorliegen wichtiger Gründe sowie für EU-EFTA-BürgerInnen kann sie bereits nach 5 Jahren erteilt werden, Hochschulprofessoren auch sofort.

Die Bewilligungspolitik mit den verschiedenen Bewilligungsarten und Aufenthaltstatuten ist ein gewichtiges Disziplinierungsmittel der Bevölkerung ohne Schweizer Pass: Nebst immer besserer Kenntnisse einer Landessprache (d.h. der Sprache am Wohnort), muss die betroffene Person über eine intakte familiäre Beziehung verfügen (im Falle des Familiennachzuges), über eine stabile und gut bezahlte Arbeitsstelle (damit das Risiko, fürsorgeabhängig zu werden, möglichst klein ist), bzw. über bedeutende finanzielle Ressourcen. Weiter darf kein erheblicher oder wiederholter Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland vorliegen, wozu auch das Vorhandensein von Ordnungsbussen oder Schulden zählen kann. Schliesslich genügt es nicht, dass gearbeitet wird und kein Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliegt, sondern auch Benehmen und Auftreten müssen den Vorstellungen von Behörden und Einbürgerungsorganen entsprechen, die darüber entscheiden, wer erfolgreich integriert ist, was unter schweizerischen Lebensverhältnissen zu verstehen ist, wie emanzipiert eine Frau (und deren Mann) sein muss, und was denn unter Emanzipation zu verstehen sei.

Es ergibt sich so ein Stufensystem:

Zuoberst stehen diejenigen, die seit Geburt über einen Schweizer Pass verfügen.
Eingebürgerte müssen noch während 8 Jahren damit rechnen, dass die Einbürgerung für nichtig erklärt wird (Art. 36 BüG).

Auch Doppelbürgerinnen und Doppelbürgern kann bei krassem Fehlverhalten die Schweizer Bürgerschaft entzogen werden (Art. 42 BüG)

Selbst seit langem Niedergelassene oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen haben, dürfen nicht dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen sein. (Art. 63 Abs 1 lit. c AIG).

Aufenthaltsberechtigte mit B-Bewilligung sind tendenziell von der Sozialhilfe ausgeschlossen, wobei die bilateralen Verträge EU/EFTA zumindest für Arbeitnehmende aus diesen Staaten eine gewisse Verbesserung mit sich gebracht haben (Diskriminierungsverbot gegenüber schweizerischen Kolleginnen und Kollegen).

Personen mit einer Kurzaufenthaltsbewilligung (L) (die auch mehrere Jahre lang ununterbrochen erneuert werden kann!) wird der Aufenthalt im Rahmen des Erwerbs der Niederlassungsbewilligung nur beschränkt berücksichtigt (Art. 34 Abs. 2 AuG).

Grenzgängerinnen und Grenzgänger, auch wenn sie nicht nur in der Schweiz arbeiten, sondern während der Woche auch hier wohnen, sind grundsätzlich von der Möglichkeit, das Schweizer Bürgerrecht zu erwerben, ausgeschlossen, ebenso von einem weiten Teil der sozialen Sicherheit, jedenfalls soweit sie bedarfsabhängig ist (Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen u.ä.). Vorläufig Aufgenommenen – ob mit oder ohne Flüchtlingsstatut – kann zwar die Bewilligung nicht allein deswegen entzogen werden, weil sie nicht genug verdienen oder

straffällig geworden sind, aber sie müssen den ganzen Weg über B- und C- Bewilligung durchlaufen, wenn sie eingebürgert werden möchten, was Jahrzehnte dauern kann.

Auf der untersten Stufe befinden sich die Asylsuchenden mit N-Bewilligung, die bis zum Asylentscheid provisorisch offiziell hier sein dürfen; die abgewiesenen Asylsuchenden (oder auf deren Gesuch nicht eingetreten wurde), die Anspruch auf Nothilfe haben; und schliesslich die Sans-papiers, die unsichtbar zu bleiben haben. Sie alle können, falls sie es lange genug rechtlos aushalten, sich schön still halten und möglichst klaglos für einen Hungerlohn arbeiten, höchstens auf eine humanitäre Bewilligung hoffen.

Der prekäre Aufenthaltsstatus wirkt sich auch auf die Gesundheit (insbesondere di psychische) ungünstig aus, was durch den ständigen Missbrauchsverdacht, dem gerade ausländische Personen in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt sind, noch verstärkt wird.[2]

Es handelt sich also um ein klassistisches System – abhängig von der sozialen Position -, um ein rassistisches System – abhängig von der Herkunft, aber auch um ein System, das Arbeitgebenden und Ehegatten eine grosse Macht über die angestellten bzw. nachgezogenen Personen gibt. Personen ohne Schweizer Pass kann im Prinzip jederzeit die Daseinsberechtigung entzogen werden, wenn der ursprüngliche Grund der Einreise ändert (weil sie z.B. der Ehegatte verlässt oder sie als Kinder volljährig werden), die Lebensumstände sie der wirtschaftlichen Grundlage berauben, sie zu einer Straftat treiben und ähnliches. Da erscheint ein Integrationskriterium wie die Respektierung der Werte der Bundesverfassung schon fast zynisch: Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen. Zum Volk aber gehören nur die wirtschaftlich Stärksten und die am besten Angepassten, d.h. die am Unfreisten.

Es zeigt sich im Migrationsrecht ganz besonders, was für die schweizerische Gesellschaft allgemein gilt: Die soziale Herkunft hat noch immer einen entscheidenden Einfluss auf die erreichte Klassenzugehörigkeit des Einzelnen, bei der sogenannten sozialen Mobilität schneidet die Schweiz schlecht ab (vgl. Julie Falcon, Soziale Mobilität in der Schweiz im 20. Jahrhundert: zwischen Demokratisierung der Bildung und Fortbestand der Klassenungleichheiten[3]). Kommt hinzu, dass gewisse Arbeiten wie die Sexarbeit zwar nachgefragt werden, aber diejenigen, die sie leisten, vor schier unüberwindbaren migrations- und verwaltungsrechtlichen Hürden stehen, und deren Verträge unter Umständen als sittenwidrig für ungültig erklärt werden. Andere sozialpolitisch unverzichtbare Arbeiten wie Care und Landwirtschaft, aber auch im Bau- und Tourismusbereich, deren Arbeitsstätten nicht in Niedriglohnländer ausgelagert werden

können, werden Migrantinnen und Migranten übertragen, ohne ihnen die entsprechenden Rechte zuzuerkennen.

Es ist an der Zeit, dass die Schweiz sich als Einwanderungsland erkennt, zu dessen Volk alle Einwohninnen und Einwohner dieses Landes gehören. Dass sich alle Menschen, die in diesem Land leben, am politischen Meinungsbildungsprozess, an der Regierung und Verwaltung beteiligen können. Dass wer gerufen wird (sei es von einem Arbeitgeber oder einem Ehegatten) nicht mit Hilfe des Migrationsrechts erpresst werden kann oder überhaupt rechtlos bleibt. Die gesellschaftlichen Werte, die im Migrationsrecht besonders stark zum Vorschein kommen, müssen hinterfragt werden und die Schweiz sollte sich mit dem Widerspruch zwischen humanitärer Tradition und tatsächlicher Würdigung ihrer – aus- und inländischen – Bürgerinnen und Bürger auseinandersetzen.

Postscriptum

Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung: «Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.»

Die meisten Kantonsverfassungen enthalten ähnliche Grundsätze. Art. 10 Abs. 2 der Kantonsverfassung Bern z.b. lautet: «Die Rechtsgleichheit ist gewährleistet. Diskriminierungen, insbesondere aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Herkunft, Lebensform sowie politischer oder religiöser Überzeugung sind in keinem Fall zulässig.»

Dieser Text entstand im Rahmen einer Arbeitsgruppe von INES- Institut Neue Schweiz, einem Think & Act Tank mit Migrationsvordergrund, der im Sommer 2016 gegründet wurde.


1 https://www.avenir-suisse.ch/strategien-fuer-das-einwanderungsland-schweiz/; https://www.swissinfo.ch/ger/politik/bevoelkerungsentwicklung_einwanderungsland-schweiz/42941804

2 siehe z.B. Valeria Canova in collaborazione con Giona Mattei, Promozione della salute e prevenzione adattati alla popolazione migrante: Analisi dei bisogni dei programmi e dei progetti di salute pubblica nel Cantone Ticino, https://www4.ti.ch/fileadmin/DSS/DSP/SPVS/PDF/Pubblicazioni/Rapp_SPVS-SOS.pdf

3 https://www.socialchangeswitzerland.ch/?p=829; https://www.workzeitung.ch/2018/03/11813/

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